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Artenvielfalt: „Wir erodieren gerade unsere Lebensgrundlage“

Wilhelm Pischke, dpa
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Von Wilhelm Pischke, dpa
| 24.09.2021 05:38 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Eine Biene sucht auf der Blüte von einer Katzenminze nach Pollen. Foto: Sven Hoppe/dpa
Eine Biene sucht auf der Blüte von einer Katzenminze nach Pollen. Foto: Sven Hoppe/dpa
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Wissenschaftler warnen vor dem Aussterben vieler Pflanzen- und Tierarten und sprechen gar von einem „Massenaussterben“. Die ersten Folgen sind schon längst sichtbar und drohen sich weiter zuzuspitzen.

Wie ein „Damoklesschwert“ schwebt der Rückgang der Artenvielfalt nach Ansicht einiger Wissenschaftler über unserer Gesellschaft.

„Da braut sich was zusammen“, sagt Katrin Böhning-Gaese, Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt am Main. Die Wissenschaftlerin untersucht seit langem den Rückgang der Biodiversität in Deutschland und Mitteleuropa. Anlässlich der ansteigenden Problematik widmet sich auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina zur Jahresversammlung 2021 am Freitag diesem Thema.

Die Abnahme der Biodiversität lasse sich gut an Langzeitbestandstrends nachvollziehen, sagt Böhning-Gaese, die Mitglied der Leopoldina ist. Insbesondere bei den Vögeln gebe es eine vergleichsweise gute Datengrundlage. Neben vielen weiteren Arten sehe sie besonders starke Rückgänge bei den Vögeln der agrargeprägten Landschaft.

„Bei uns in Deutschland und in Mitteleuropa liegt das Problem in der Agrarlandschaft, also Wiesen, Weiden und Äcker“, erklärt die Wissenschaftlerin. Die Gründe dafür seien komplex. Die übergeordnete Ursache ist für Böhning-Gaese, dass die Landwirtschaft auf reine Produktivität ausgerichtet ist. „So viel produzieren, wie irgendwie möglich.“

Begleiterscheinungen seien Pflanzenschutzmittel wie Glyphosat, hohe Düngeraten und eine Veränderung der Anbaukultur hin zu Monokulturen, die zum Verlust von Hecken, Bäumen und Brachflächen führten. Die geringe pflanzliche Vielfalt wirke sich schließlich auch auf die Tiere aus, beispielsweise auf Vögel denen die Brutstätten und Verstecke fehlten.

Eines der „dramatischsten Ergebnisse“ von Langzeituntersuchungen sei bereits 2017 veröffentlicht worden. Bürgerwissenschaftler hatten zusammen mit Statistikern innerhalb von 27 Jahren „einen Rückgang um mehr als 75 Prozent der Biomasse an Fluginsekten“ beobachtet. „Das hat damals eingeschlagen und gezeigt, dass wir ein massives Problem in Deutschland und in Mitteleuropa mit dem Insektensterben haben.“

Die Folgen der fehlenden Biodiversität seien schon jetzt sichtbar, sagt Böhning-Gaese. Es fehlten in der Fläche Bestäuber wie Bienen. Dies zeige sich mitunter am Ertrag der Obstbäume, deren Fruchtbildung geringer ausfalle. Zwar könnten Landwirte dann mit Bienenstöcken nachhelfen, doch der Rückgang der Wildbienen sei dennoch sichtbar und mit Folgen für den Bestäubungserfolg verschiedener Pflanzen behaftet.

Dramatisch sind laut Böhning-Gaese die Folgen der geringer werdenden Artenvielfalt auch im Wald. Hier zeigten sich die eklatanten Folgen eines artenarmen Ökosystems. „Wir sehen ein massives Sterben in monokulturellen Wäldern insbesondere der trockenempfindlichen Fichte.“ Die Forstwirte seien angesichts des Waldsterbens „am Verzweifeln“.

„Das klingt im ersten Moment für viele Menschen vielleicht nicht so dramatisch“, sagt Böhning-Gaese. Doch die Summe der negativen Folgen baue sich langsam auf. „Das ist als wenn ich aus einem Netz, das uns trägt, eine Masche nach der anderen rausnehme. Irgendwann wird das reißen.“ Man wisse, dass es solche Kipppunkte gibt. Schon jetzt sehe man, wie die geringe Artenvielfalt als Teil der Ursache die Lebensgrundlage beispielsweise von Fischern und Landwirten zerstört, sagt Böhning-Gaese. „Das merken wir Städter vielleicht im ersten Moment nicht, aber der Bauer und der Fischer spüren das schon jetzt.“

Mit dem Verlust „der Maschen“ werden wir in Schwierigkeiten kommen, sagt die Wissenschaftlerin. „Wir erodieren gerade unsere Lebensgrundlage.“ Man müsse Biodiversität bewahren, damit auch nachfolgende Generationen noch die Leistungen aus der Natur beziehen könnten. Dafür müsste die Landwirtschaft verstärkt auf Ökolandbau und Ökologisierung des konventionellen Anbaus setzen. Weniger Pflanzenschutz, weniger Dünger. „Aber zusätzlich brauchen wir eine Agrarwende.“

„Wir müssen unser Konsumverhalten ändern“, betont Böhnig-Gaese. Wer es sich leisten kann, soll auf hochwertige Nahrungsmittel achten. Außerdem müsse weniger Fleisch dafür mehr Pflanzliches gegessen werden. Es sei noch nicht zu spät. Man kann bei vielen Arten noch „die Kurve kriegen“, so die Leopoldina-Wissenschaftlerin. „Wir müssen allerdings sofort und gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen anfangen.“

© dpa-infocom, dpa:210924-99-337795/2

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