London/Berlin (dpa)
Tears For Fears suchen nach einem Happy End
„Shout, shout, let it all out ...“ - ein 80er-Jahre-Ohrwurm, vor dem es kein Entrinnen gab. Doch in den 90ern brach die Weltkarriere von Tears For Fears einfach ab. Nun haben sich Orzabal/Smith für ein Comeback zusammengerauft.
Es gibt kaum eine interessantere 80er-Jahre-Band als Tears For Fears. Vom Synthiepop über hymnischen Rock bis zu Soul und raffinierten Beatles-Anleihen spannten die Briten Roland Orzabal und Curt Smith von 1983 bis 1989 auf drei Alben einen weiten Bogen.
Ihre Singlehits „Mad World“, „Shout“ und „Everybody Wants To Rule The World“ definierten einen für diese Pop-Dekade maßgeblichen Sound. Tears For Fears beherrschten zeitweise tatsächlich die Welt, doch dann - kam fast nichts mehr.
Umso mehr überrascht nun der so entspannte wie selbstbewusste Auftritt mit dem Comeback-Album „The Tipping Point“. Denn eigentlich hatten sich Millionen Fans ja längst damit abgefunden, dass „Everybody Loves A Happy Ending“ (2004) den Abschluss einer von frühem Weltruhm und sanftem Abstieg geprägten Laufbahn bildete. Nur dass diese Platte vor fast 18 Jahren eben kein glückliches Ende markierte.
Legendäre Streitereien
„Wir haben neue Musik gemacht, aber die Leute haben die alte Musik gekauft“, erinnert sich Roland Orzabal im Interview der Deutschen Presse-Agentur in London. „Denn wir haben sie an unsere Blütezeit erinnert. Okay gut, kein Problem. Nehmen wir. Ist ein Luxusproblem.“ Doch irgendwann genügte es Orzabal/Smith nicht mehr, ihre legendären Streitereien zu pflegen und mit den Hits einer großen Vergangenheit über die Runden zu kommen.
„The Tipping Point“ erzählt nun keine gänzlich neuen Dinge über Tears For Fears, die rund 30 Millionen Alben verkauft haben sollen. Aber der Band gelingt in zehn (Deluxe-Edition: 13) Songs doch eine sehr respektable Brücke zwischen flauschigen 80er-Klängen und der gereiften Songschreiber-Kunst von zwei inzwischen 60 Jahre alten Musikern.
Der Nostalgie-Faktor ist da
„No Small Thing“ zum Einstieg beginnt zart mit akustischer Gitarre und steigert sich zu jenem stilvollen Bombast, den man von Tears For Fears so mag. Auch der Titelsong erfüllt mit treibenden Drums und opulenten Harmoniegesängen den Wunsch vieler Fans nach einer sofort wiedererkennbaren Klangwelt. „Long, Long, Long Road“ und „Rivers Of Mercy“ hätten auch auf dem Soul-Blues-Meisterwerk „The Seeds Of Love“ (1989) - für viele der kreative Höhepunkt dieser Band - keine schlechte Figur gemacht. Und so geht es weiter bis zum Schluss mit Liedern, die nicht krampfhaft Pop des 21. Jahrhunderts sein wollen - dafür aber von zeitloser Größe.
Selbst wenn der Nostalgie-Faktor also nicht zu unterschätzen ist, wird es doch nie peinlich-sentimental (berührend durchaus, etwa in der wunderschönen, von einer Trompete verzierten Ballade „Please Be Happy“). Und die hoch emotionalen Stimmen der Ausnahmesänger Orzabal und Smith vertreiben ohnehin jeden Verdacht, dass Tears For Fears hier auf dem Retro-Ticket schnöde abkassieren wollen.
Dabei war der Weg zum Spätwerk ein steiniger - Management und Plattenfirma setzten den Musikern im Vorfeld von „The Tipping Point“ zu, wie beide im dpa-Interview berichten. So ergab sich eine Art Trotzreaktion: „Der Gedanke war, dass es vielleicht besser ist, wenn wir das Album selbst zu Ende schreiben - anstatt auf andere Leute zu hören, die uns sagen, wie das Album sein sollte“, sagt Curt Smith. „Da haben wir "No Small Thing" geschrieben, den Opener. Und dann kam irgendwie alles ins Rollen.“
Denn, so gibt Smith jetzt im Gespräch offen zu: „Das war vorher das Problem des Albums: Wir hatten keine Story. Es war einfach nur eine lose Sammlung unterschiedlicher Songs, die unbedingt erfolgreich sein sollten.“ Orzabal pflichtet ihm bei: „Es waren zehn Versuche, eine zeitgenössische Hitsingle zu haben.“
Hinzu kamen die nie ganz unkomplizierten Binnenverhältnisse des in verschiedenen Weltregionen lebenden Duos. „Wir sind zwei miesepetrige Deppen, die machen, was sie wollen. Und das ist ein weiterer Grund, warum alles so lange dauert“, erklärt Orzabal nur halb im Scherz.
Sie haben sich als Live-Band neu erfunden
Schließlich dimmten die beiden Ex-Superstars ihre Erwartungen herunter: „Ich schätze, man muss sich in der Musik ein bisschen vom Wind tragen lassen“, sagt Orzabal. „Manchmal funktioniert der Markt für dich und manchmal nicht. Und für uns hat er nicht mal bei "Everybody Loves A Happy Ending" funktioniert. Wir waren nicht relevant, wir waren nicht wichtig.“
So erfanden sich Tears For Fears als Liveband neu und gewannen die Freude an der gemeinsamen Musik zurück. Orzabal: „Wenn du live spielst, dann ist das eine direkte Erfahrung. Da gibt es keine Politik, nur das Publikum und die Künstler. Und von da ist es gewachsen und gewachsen.“
Mit „The Tipping Point“, ihrem des Öfteren an frühere Geniestreiche erinnernden Neustart, sind die Briten letztlich sehr zufrieden. Denn der Sound sei halt ihr eigener, unverwechselbarer: „So sind wir erfolgreich geworden, wir klingen einfach nach uns“, sagt Smith. Sein Band-Partner fügt hinzu: „Wir haben uns einander angenähert, und wir nähern uns immer noch an. Und das ist ein sehr schönes Gefühl.“ Tears For Fears seien „am besten, wenn wir etwas wagen“, betont Orzabal zum Abschluss. „Wir haben die Fesseln gelöst und ein tolles Album gemacht.“ Kein Widerspruch.
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