Rio de Janeiro (dpa)

„Impf-Feinschmecker“ in Brasilien: Die Jagd nach dem Vakzin

Martina Farmbauer, dpa
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Von Martina Farmbauer, dpa
| 08.08.2021 16:30 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Auf dem Höhepunkt einer außer Kontrolle geratenen Pandemie brach in Brasilien das Gesundheitssystem zusammen, Massengräber wurden ausgehoben. Nun jagen Brasilianer ihrem bevorzugten Impfstoff hinterher.

Nicht mit französischem Käse wird der Begriff „Feinschmecker“ in Brasilien derzeit in Verbindung gebracht, sondern mit deutsch-amerikanischem Impfstoff.

„Sommeliers de Vacina“ (Impfstoff-Sommeliers), wohl am ehesten mit „Impf-Feinschmecker“ übersetzt, werden diejenigen genannt, die sich aussuchen wollen, welches Vakzin gegen das Coronavirus sie bekommen.

Der Impfstoff von Biontech/Pfizer ist am beliebtesten. Und die brasilianischen „Impf-Feinschmecker“ sind bereit, für ihren Favoriten eine Menge zu tun. Sie jagen beispielsweise dem Impfstoff durch Millionen-Metropolen wie Rio de Janeiro hinterher.

Über Telegram zum gewünschten Impfstoff

Dabei nutzen sie Telegram-Gruppen wie „Vacina Rio“, Facebook-Gruppen wie „EU TOMEI A VACINA DA PFIZER!!!“ und Internetseiten wie „Onde Tem Vacina“.

In diesen Gruppen tauschen sich Tausende Brasilianer aus, in welcher Impfstelle an welchem Tag welcher Impfstoff verfügbar ist. Mitglieder suchen vom frühen Morgen an die Posten ab und schicken Informationen über die Länge der Schlangen, die „Marke“ des Impfstoffs und geben sich Unterstützung und Ratschläge - „Kommt her, auch wenn ihr weit weg seid!“. Über den Tag werden die Angaben aktualisiert.

Die häufigste Empfehlung lautet, Impfstellen zu bestimmten Uhrzeiten auf die Ankunft von neuen Dosen zu überprüfen. Als sich herumspricht, dass eine Lieferung von Biontech/Pfizer angekommen sei, spielt die Gruppe verrückt. 5000 Nachrichten, wo diese Impfdosen gelandet sein könnten, gibt es in kurzer Zeit. Ein Dutzend Mitglieder organisiert sich schließlich, um nach Campo Grande im Westen Rios zu fahren.

Die „Impf-Feinschmecker“ versuchen, Impfstoffe wie Astrazeneca und Coronavac zu vermeiden. Dabei sind das die beiden Vakzine, die im nationalen Impfplan Brasiliens am meisten vertreten sind. Die Regierung schloss ein Abkommen mit dem Pharmaunternehmen Astrazeneca, das bereits im Juni vergangenen Jahres seinen Impfstoff im größten Land Lateinamerikas testete; inzwischen stellt die Forschungseinrichtung „Fundação Oswaldo Cruz“ in Rio das Vakzin selbst her. Der Bundesstaat São Paulo kooperiert mit dem chinesischen Pharmakonzern Sinovac, das „Instituto Butantan“ produziert Coronavac.

Erfahrung mit Gesundheitskrisen

Brasilien hat Erfahrung mit Gesundheitskrisen. 2019 wurden in drei Monaten 80 Millionen Menschen gegen das Influenzavirus geimpft. Mit „Impf-Feinschmeckern“ in der Corona-Pandemie haben die Behörden allerdings nicht gerechnet.

Bereitwillig gibt Maria da Silva über die Tipps und Tricks der „Impf-Feinschmecker“ Auskunft. „Warum soll ich Coronavac nehmen, wenn ich Pfizer bekommen kann?“, sagt sie. Mit richtigem Namen will die Frau aber nicht genannt werden. Mitglieder von Telegram-Gruppen verteidigen die freie Wahl eines Impfstoffes und verweisen auf die Demokratie.

Behörden und Experten empfehlen, den verfügbaren Impfstoff zu nehmen, um die Impfkampagne zu beschleunigen und die Immunität der Bevölkerung zu erhöhen. „Impf-Feinschmecker zu sein bedeutet, dass jemand immer noch nicht verstanden hat“, sagt die Infektiologin Luana Araújo. „Er sollte sich informieren, welche Zahlen wir haben, wieder in die Schlange gehen, sich impfen lassen.“

17 Prozent vollständig geimpft

Mehr als 20 Millionen Menschen haben sich in Brasilien - einem Land mit 210 Millionen Einwohnern und 24 mal so groß wie Deutschland - nach offiziellen Angaben mit dem Coronavirus infiziert, fast 563.000 Patienten sind im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben - mehr Tote gibt es nur in den USA. Auf dem Höhepunkt einer außer Kontrolle geratenen Corona-Pandemie brach im März und April das Gesundheitssystem zusammen, Massengräber wurden ausgehoben.

Seit Beginn der landesweiten Impfkampagne im Januar sind nun fast 142 Millionen Impfdosen verabreicht worden. Etwa 40 Prozent der erwachsenen Brasilianer haben eine erste Dosis bekommen, rund 17 Prozent sind vollständig geimpft.

Ausbremsung des Impftempos befürchtet

Wegen fehlender Impfdosen muss die Impfkampagne immer wieder ausgesetzt werden. Wenn Menschen sich dann noch den Impfstoff aussuchen wollen und sich dabei auf einen einzigen Hersteller fokussieren, wird das Impftempo weiter gebremst, so die Befürchtung. Und das in einem Moment, in dem die Tendenz in mehreren Bundesstaaten trotz Delta-Variante hin zu Öffnungsschritten wie Fußballspielen mit Publikum und Festen mit mehreren Hunderten Gästen geht.

Immer mehr Städte und Gemeinden versuchen jetzt, die „Sommeliers de Vacina“ zu stoppen, Sao Paulo sogar per Gesetz. Sie setzen die „Impf-Feinschmecker“ an das Ende des Impfkalenders. Dieser Kalender funktioniert in Rio so: Dem Alter entsprechend gibt es einen Tag, an dem jemand an der Reihe ist. Den Ort der Impfung, für die nur eine Identifikationsnummer nötig ist, kann man sich aussuchen.

Natürlich versuchen Menschen, die Behörden auszutricksen. Meistens erkundigen sie gleich bei der Ankunft an einer Impfstation und noch vor der Anmeldung, welcher Impfstoff dort verabreicht wird. Die „Impf-Feinschmecker“, die ihr bevorzugtes Vakzin bekommen, teilen das auch bei Telegram mit: „Einmal mehr danke an die Gruppe, die mir heute sehr geholfen hat. Schutz, Gesundheit und Frieden für alle.“

© dpa-infocom, dpa:210808-99-770280/2

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