Frankfurt/Main (dpa)

„NSU 2.0“: Der lange Weg zur Aufklärung

Sandra Trauner und Eva Krafczyk, dpa
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Von Sandra Trauner und Eva Krafczyk, dpa
| 28.10.2021 10:09 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Eine Demonstrantin hält während einer Kundgebung in Wiesbaden ein Plakat mit der Aufschrift „Solidarität mit den Betroffenen des NSU 2.0“ (Archiv). Die Staatsanwaltschaft hat gegen den mutmaßlichen Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben Anklage erhoben. Foto: Arne Dedert/dpa
Eine Demonstrantin hält während einer Kundgebung in Wiesbaden ein Plakat mit der Aufschrift „Solidarität mit den Betroffenen des NSU 2.0“ (Archiv). Die Staatsanwaltschaft hat gegen den mutmaßlichen Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben Anklage erhoben. Foto: Arne Dedert/dpa
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Jahrelang wurden Menschen in Drohschreiben massiv beleidigt und mit dem Tod bedroht. Nun soll der mutmaßliche Verfasser vor Gericht. Ist die Polizei jetzt aus dem Schneider und ist der Fall damit auch politisch vom Tisch?

„Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst“: Jahrelang erhielten vor allem Frauen mit migrantischen Wurzeln Drohschreiben, die in Anspielung auf die rechtsextremistische Mordserie mit „NSU 2.0“ unterzeichnet waren.

Im Mai meldete die Polizei einen Fahndungserfolg: Ein 53 Jahre alter Deutscher wurde in Berlin festgenommen. Am Donnerstag hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt Anklage erhoben. Das Landgericht wird bei der Verhandlung des Falls viel zu tun haben, denn die These vom Einzeltäter ist umstritten.

Der Beschuldigte soll die Drohschreiben zwischen August 2018 und März 2021 verfasst und per E-Mail, Fax oder SMS an Privatpersonen, Personen des öffentlichen Lebens sowie Behörden und Institutionen verschickt haben. Die 120 Seiten starke Anklageschrift zitiert Beispiele aus 116 Briefen. Die Empfänger wurden als „Abfallprodukte“ und „Volksschädling“ angesprochen oder als „hirntoter Scheißdöner“. Die Drohungen richteten sich auch gegen Familienangehörige, die „mit barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet“ würden.

Der Verfasser habe regelmäßig die Grußformel „Heil Hitler“ verwendet und sich „SS-Obersturmbannführer“ genannt. Um die Drohwirkung zu verstärken, habe er „zum Teil nicht frei zugängliche Daten der ausschließlich weiblichen Adressatinnen“ genannt, berichtete die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Nadja Niesen. Dabei soll es ihm auch darum gegangen sein, „neben der Bedrohungswirkung auf die unmittelbaren Adressaten der Schreiben eine öffentlichkeitswirksame Medienberichterstattung zu erreichen“.

Ihm wird nun in 67 Fällen eine lange Liste an Vergehen zur Last gelegt, darunter Beleidigung, versuchte Nötigung, Bedrohung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens, Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, öffentliche Aufforderung zu Straftaten und Volksverhetzung.

Internetrecherchen und sprachwissenschaftliche Analysen hatten zur Festnahme des Berliners geführt, der nun in Frankfurt in Untersuchungshaft sitzt. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wurden neben elektronischen und schriftlichen Unterlagen auch Kinderpornografie sowie zwei Würgehölzer sichergestellt, die nun ebenfalls Teil der Anklage sind. Der 53-jährige bestreitet die Tatvorwürfe nach Angaben der Staatsanwaltschaft.

Neben seiner Täterschaft wird es im Prozess auch darum gehen, weitere offene Fragen zu klären. Es sei weiterhin nicht bekannt, woher der Beschuldigte die „öffentlich nicht zugänglichen Behördendaten hatte und warum die Daten der bedrohten Frauen von Polizei-Computern abgerufen wurden“, sagte Torsten Felstehausen, der innenpolitische Sprecher der Linken im Hessischen Landtag. Auch die Linken-Politikerin Janine Wissler hatte „NSU 2.0“-Drohschreiben erhalten, eine Abfrage ihrer Daten war an einem Wiesbadener Polizeirechner festgestellt worden.

Auch persönliche Daten der Frankfurter Anwältin Seda Basay Yildiz - der ersten Adressatin von „NSU 2.0“-Drohungen - wurden von einem Rechner in einem Frankfurter Polizeirevier abgerufen. Nicht einmal eine Stunde später traf das erste Drohschreiben ein, in dem auch die gesamte Familie der Juristin bedroht wurde. Der Name „NSU 2.0“ dürfte nicht von ungefähr gekommen sein: Basay-Yildiz vertrat als Nebenklageanwältin Angehörige von Mordopfer der Terrorzelle NSU. Bei den weiteren Nachforschungen stießen Ermittler in dem betroffenen Revier auf eine Chatgruppe mit rechtsextremen und rassistischen Inhalten.

Die Anklage gegen den 53-Jährigen stützt allerdings die These vom Einzeltäter: „Der Verdacht, Polizeibeamte könnten an der Datenabfrage beteiligt gewesen sein, hat sich laut Staatsanwaltschaft nicht bestätigt“, hieß es am Donnerstag. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Verfasser die Infos „unter Einsatz einer Legende erlangt hat, indem er vorgab, Bediensteter einer Behörde zu sein“.

Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) sieht die Polizei entlastet. „Hessische Polizistinnen und Polizisten waren zu keinem Zeitpunkt Absender oder Tatbeteiligte der NSU-2.0-Drohmails-Serie“, teilte das Innenministerium mit. Die Anklage sei „eine wichtige Etappe eines rechtsstaatlichen Verfahrens“.

Basay-Yildiz hingegen sieht weiteren Aufklärungsbedarf - und ist skeptisch in ihren Erwartungen. „Nach wie vor ist nicht klar, wie beide Adressen, insbesondere wie die zweite gesperrte Adresse, die man nicht telefonisch erfragen kann, im Umlauf gekommen sind“, sagte die Juristin. Sie war nach Erhalt der ersten Schreiben umgezogen, diese Adresse war in den Datenbanken der Polizei und anderer Behörden mit einem Sperrvermerk versehen.

„Zudem sind nach meiner Kenntnis in meinem Fall nicht nur persönliche Daten wie Adresse abgefragt worden, sondern es erfolgten auch gezielte Abfragen in polizeilichen Datenbanken nach Verurteilungen beziehungsweise Ermittlungsverfahren gegen mich.“ Dies sei telefonisch nicht möglich. Die These der Staatsanwaltschaft halte sie nicht für schlüssig, sagte Basay-Yildiz. „Ich rechne jedenfalls nicht mehr mit der vollständigen Aufklärung des Sachverhaltes.“

© dpa-infocom, dpa:211028-99-768878/4

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