Brüssel (dpa)
EU-Parlament verklagt EU-Kommission wegen Untätigkeit
Ist die EU-Kommission untätig, wenn es um den Schutz von EU-Geld geht? Das zumindest wirft das Europaparlament der Behörde vor - und trägt den Fall vor das höchste EU-Gericht. Doch der Druck könnte ins Leere laufen.
Das Europaparlament verklagt die EU-Kommission von Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Gerichtshof, weil sie eine neue Regelung zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen in EU-Staaten bislang nicht angewendet hat.
Präsident David Sassoli wies den juristischen Dienst des Parlaments am Freitag an, die Klage beim Gerichtshof in Luxemburg einzureichen. Es ist ein bislang äußerst seltener Vorgang: Bislang hat das Parlament die EU-Kommission nur ein einziges Mal vor dem EuGH verklagt.
Bei der aktuellen Klage geht es um den EU-Rechtsstaatsmechanismus, der seit Anfang des Jahres in Kraft ist. Er sieht vor, dass EU-Ländern Mittel aus dem gemeinsamen Haushalt gekürzt werden können, wenn ein Missbrauch des Geldes wegen Rechtsstaatsverstößen droht.
Ungarn und Polen befürchten, dass das neue Verfahren vor allem gegen sie eingesetzt werden soll. Sie haben deshalb Klage gegen die Verordnung beim EuGH eingereicht - das Verfahren läuft noch.
Die EU-Kommission wollte den Mechanismus eigentlich erst auslösen, wenn der EuGH über die Klagen von Ungarn und Polen entschieden hat. So sieht es auch eine Einigung der Staats- und Regierungschefs vor - an der war das Parlament jedoch nicht beteiligt. Mit diesem Kompromiss waren die Regierungen in Budapest und Warschau 2020 dazu gebracht worden, ihre Blockade wichtiger EU-Haushaltsentscheidungen aufzugeben.
Die Abgeordneten werfen von der Leyen und ihrer Behörde nun vor, das Geld aus dem EU-Haushalt nicht entschlossen genug gegen Korruption oder Betrug zu schützen. Im Fokus: mal wieder Polen und Ungarn.
Mit beiden Ländern gibt es seit Jahren Streit, weil sie sich ausweislich etlicher Gerichtsurteile nicht an EU-Recht halten. Es sind auch die einzigen Länder, gegen die wegen möglicher Verstöße gegen die EU-Grundwerte Artikel-7-Verfahren laufen. Der Streit mit Polen war nach einem Urteil des Verfassungsgerichts in Warschau zuletzt eskaliert. Das Gericht hatte entschieden, dass wesentliche Teile des EU-Rechts nicht mit Polens Verfassung vereinbar sind. Die EU-Kommission betont hingegen immer wieder: EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht.
Parlamentspräsident Sassoli stellte nun klar, man erwarte, dass die EU-Kommission konsequent handele und das umsetze, was von der Leyen zuletzt im Parlament zum Thema Rechtsstaat gesagt habe. „Den Worten müssen Taten folgen.“ Erst in der vergangenen Woche hatte von der Leyen sich ein hitziges Rededuell mit Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki geliefert. Ihre Behörde werde die Rechtsstaatlichkeit mit allen Mitteln verteidigen, sagte sie im EU-Parlament.
Zugleich will sie die Abmachung der Staats- und Regierungschefs nicht unterlaufen. Man wolle den Richterspruch zur Klage von Ungarn und Polen gegen den Rechtsstaatsmechanismus abwarten und mögliche Konsequenzen berücksichtigen, sagte die CDU-Politikerin wenige Tage später nach einem EU-Gipfel. Was jedoch schon vorher möglich sei: Briefe an EU-Staaten zu schreiben und Informationen einzuholen. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich dafür ausgesprochen, auf die EuGH-Entscheidung zu warten.
Der Druck des Parlaments scheint also ins Leere zu laufen. Schon seit Monaten versuchen die Abgeordneten, die EU-Kommission zum Handeln zu drängen. Im Juni beschloss das Parlament, das Verfahren für die Untätigkeitsklage zu beginnen. Mitte Oktober stimmte der zuständige Rechtsausschuss dann dafür, die Klage tatsächlich einzureichen.
Kritiker werfen sowohl der ungarischen als auch der polnischen Regierung vor, die Justiz entgegen den EU-Standards zu beeinflussen. Sie sehen deswegen auch eine Gefahr für den EU-Haushalt, weil in der Regel nationale Strafverfolgungsbehörden und Gerichte für die Aufklärung eines möglichen Missbrauchs von EU-Geldern zuständig sind.
Wann also wird die EU-Kommission den Rechtsstaatsmechanismus anwenden? Ein EuGH-Urteil über die Rechtmäßigkeit des Instruments dürfte erst in einigen Monaten fallen. Zunächst einmal wird für den 2. Dezember das Gutachten eines EuGH-Generalanwalt erwartet. Die EU-Kommission betont derweil immer wieder, dass die Vorbereitungen für Verfahren nach dem Mechanismus liefen und kein Fall verloren gehen werde.
© dpa-infocom, dpa:211029-99-788922/3