Berlin/Nürnberg (dpa)

Fachkräftemangel: Deutscher Arbeitsmarkt droht auszubluten

Michael Donhauser, dpa
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Von Michael Donhauser, dpa
| 18.11.2021 07:35 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Eine Studie zeigt, dass fast 40 Prozent der Ausbildungsplätze in diesem Jahr nicht besetzt wurden. Foto: Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa
Eine Studie zeigt, dass fast 40 Prozent der Ausbildungsplätze in diesem Jahr nicht besetzt wurden. Foto: Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa
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Die Angst der Arbeitnehmer um den Job ist der Angst der Unternehmer vor leeren Werkbänken gewichen. Fachkräftemangel ist die große Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt.

Fünf Millionen Arbeitslose, Hunderttausende weitere in Qualifizierungen und Weiterbildungen versteckt - Deutschlands Arbeitsmarkt kannte vor gut 15 Jahren nur ein Ziel: Stellen schaffen, wo immer es geht.

Doch schon damals war für die Wissenschaft absehbar, was heute bittere Realität ist. Nicht die Arbeitsplätze sind längerfristig das Problem, sondern die Arbeitskräfte. Dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen die Leute, und das Problem dürfte sich in den nächsten Jahren verschärfen. Schon jetzt hat sich die Arbeitslosigkeit halbiert - trotz Corona.

„Die Fachkräfte werden das Hauptthema werden“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele. Den Mangel an geeignetem Personal hält er für die entscheidende Wachstumsbremse für die Konjunktur in Deutschland. Doch wo sollen die Fachleute herkommen, die in den kommenden Jahrzehnten den Ruf von „Made in Germany“ hochhalten, Werkzeugmaschinen und Autos bauen, chemische Produkte herstellen und die Digitalisierung vorantreiben?

Weiterbildung

„Unser Eindruck ist, dass wir vor einer Dekade der Weiterbildung und Qualifizierung stehen“, sagt Scheele. Die Erkenntnis ist so einfach wie erschreckend. „Jeden Menschen, der uns aus dem Erwerbsleben rausfliegt, werden wir teuer bezahlen, wenn wir versuchen, einen anderen zu finden: Der ist nämlich nicht da“, betont er.

Die einzige inländische Reserve ist die eine Million Langzeitarbeitslose. Sie zu qualifizieren und ins Arbeitsleben zurückzuholen, ist schwierig, aber nicht unmöglich. Längere Ausbildungszeiten und modulare Ausbildungen wären für Scheele Möglichkeiten, um auch Menschen den Weg zu ebnen, die eine Ausbildung am Stück nicht schaffen. Es brauche auch einen Imagewandel bei Hartz-IV. Jobcenter dürften nicht länger als „Hort der Drangsalierung“ wahrgenommen werden.

Das Teilhabechancengesetz, das Fördermöglichkeiten für die Einstellung von Langzeitarbeitslosen vorsieht, solle in einem entscheidenden Teil von der neuen Bundesregierung verlängert werden, fordert Scheele. Das sei teuer - knapp eine Milliarden Euro pro Jahr - aber sinnvoll. Wie steinig der Boden ist, den die BA pflügt, belegt eine Studie des IAB: Demnach hat die Hälfte der Langzeitarbeitslosen eine Beschäftigungswahrscheinlichkeit von weniger als 20 Prozent.

Ein weiteres Ziel ist es, mehr Menschen von Minijobs in höherwertige, sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu bringen. Minijobs seien für Studenten oder Rentner ein gangbarer Weg, wenn es darum geht, etwa dazuzuverdienen. Für Zweitverdiener aber müsse es bessere Möglichkeiten geben, sagt etwa Christina Ramb von der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

Ausbildung

Der Leiter des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Bernd Fitzenberger, hat für die Situation auf dem Ausbildungsmarkt nur eine Beschreibung: „Enttäuschend!“ 40 Prozent der Ausbildungsplätze, die die Wirtschaft gerne besetzt hätte, waren im September noch frei. Besonders eklatant ist die Situation am Bau und in kleineren Betrieben. Der natürliche Motor der Fachkräftegewinnung - der eigene Nachwuchs - stottert gewaltig.

Das liegt auch an der Corona-Krise, aber wohl nicht nur. Es fehlten Bewerber, vor allem geeignete, klagen die Betriebe laut einer Umfrage des IAB. Fitzenberger kontert: Die Unternehmen müssten deutlich kompromissbereiter werden. „Wir können es uns eigentlich nicht leisten, Jugendliche, die sich bewerben, nicht einzustellen.“

Die Arbeitnehmerseite hält eine staatliche Ausbildungsgarantie für ein gebotenes Mittel, wie DGB-Vorstand Anja Piel vorschlägt. Für BDA-Expertin Ramb ist dagegen die regionale Kluft zwischen Angebot und Nachfrage das entscheidende Problem. „Das werden wir mit einer Ausbildungsgarantie nicht lösen.“

Zuzug aus dem Ausland

Die Zuwanderung von Arbeitskräften aus EU-Ländern und auch aus Drittstaaten ist in der Corona-Krise praktisch zum Erliegen gekommen. Sie ist aber bitter nötig, um das Fachkräftepotenzial zu stützen - und längerfristig auch die Sozialversicherung in Deutschland nicht zu gefährden. Die EU-Arbeiter bleiben aus, weil vor allem in den unteren Lohngruppen die Bezahlung in Heimatländern wie Polen inzwischen praktisch gleich ist. Mit einer Reihe von Projekten versucht die Bundesagentur für Arbeit, Menschen aus Drittstaaten zu gewinnen - Mexiko, Indonesien oder die Philippinen sind Beispiele.

Die deutsche Sprache ist ein Hindernis, sagt BA-Vorstandsmitglied Daniel Terzenbach, die Anerkennung ausländischer Abschlüsse sei in Deutschland noch immer holprig. Deutschland habe aber im Wettbewerb um Arbeitskräfte auch erhebliche Vorteile zu bieten, etwa bei den Arbeitsbedingungen. Wenn bei Präsentationen im Ausland von 30 Tagen Urlaubsanspruch und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gesprochen werde, könnten das die Interessierten kaum glauben.

Demografie

Der Zuzug aus Drittstaaten macht eher einen kleinen Teil bei der Fachkräftegewinnung aus - aber einen notwendigen. Bald werden geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand verabschiedet. Würde überhaupt kein Hebel in Bewegung gesetzt, weder im Inland noch im Ausland, würden bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen, rechnet Terzenbach vor. Deswegen müsse gegengesteuert werden: Mit längeren Lebensarbeitmodellen, mit mehr Wochenstunden für Frauen, mit Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen und auch mit Einwanderung.

© dpa-infocom, dpa:211118-99-43305/4

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