Frankfurt/Main (dpa)
Wie Kliniken Covid-19 managen
Es gebe schon längst eine Art von Triage in den Kliniken, heißt es von der Krankenhausgesellschaft. Der Zustrom an Patienten ist für viele Krankenhäuser kaum mehr zu bewältigen.
Auf den Stationen deutscher Kliniken liegen immer mehr Covid-19-Patienten. Selbst bei sofort stagnierenden Infektionszahlen würde diese Entwicklung noch mehr als eine Woche lang anhalten.
Und schon jetzt würden Intensiv-Patienten früher „als medizinisch vertretbar“ auf Normalstationen verlegt, sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, im Deutschlandfunk. „Man weiß: Wir können nicht mehr allen Patienten die bestmögliche Behandlung ermöglichen, (...) die wir im Regelfall zur Verfügung haben.“ Das sei schon eine Art von Triage. Dazu Fragen und Antworten:
Was ist Triage eigentlich?
Der Begriff stammt aus der Katastrophenmedizin. Dort bedeutet er, dass Patientinnen und Patienten etwa bei einem großen Unglücksfall nach Dringlichkeit ihrer Behandlung eingereiht werden. Zuerst wurde das Wort laut Medizinhistorikern im französischen Militär verwendet: für die Reihenfolge, in der verwundete Soldaten behandelt werden.
In der Pandemie meint Triage eher, dass ausgewählt wird, wer Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung bekommt oder dass ein Patient mit schlechter Prognose sein Bett räumen muss für einen Erkrankten, dem bessere Chancen eingeräumt werden. Es habe sich aber „bis heute kein allgemein akzeptiertes oder gar verbindliches Triage-Schema herauskristallisiert“, sagte der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann im März bei einem Forum des Ethikrats zum Thema Triage.
„Wenn wir von Triage sprechen, ist das ein schleichender Prozess, der nach und nach immer härter Realität wird“, sagte Gaß. So müssten sich Patienten und Kliniken darauf einstellen, dass „medizinisch kompliziertere Fälle“ beispielsweise mit einer Verschiebung ihrer Operationen rechnen müssten.
Nach welche Kriterien würde entschieden, wer behandelt wird?
„In Ermangelung entsprechender staatlicher Vorgaben“ haben acht medizinische Fachgesellschaften im März 2020 Vorschläge ausgearbeitet, wie bei knappen Ressourcen möglichst viele Menschen gerettet werden können. „Dies stellt eine enorme emotionale und moralische Herausforderung für das Behandlungsteam dar“, betonen die Autoren.
Die Priorisierung von Patienten solle sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren. „Dabei werden - wenn nicht anders vermeidbar - diejenigen Patienten nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Aussicht besteht zu überleben. Vorrangig werden demgegenüber diejenigen Patienten intensivmedizinisch behandelt, die durch diese Maßnahmen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben.“
Im Weiteren wird präzisiert: In die zu treffende Auswahl müssen alle Patienten einbezogen werden, egal auf welcher Station sie liegen. Nicht vertretbar wäre eine Auswahl nur unter Covid-19-Patienten. Nicht zulässig wäre auch eine Auswahl allein aufgrund des Alters, sozialer Merkmale oder bestimmter Grunderkrankungen. In einer aktualisierten Fassung der Empfehlung betonen die Experten im November 2021, dass auch der Impfstatus eines Patienten keine Rolle spielen dürfe für die Entscheidung über die weitere Behandlung.
Wie stehen die Überlebenschancen bei Covid-19 auf Intensivstationen?
Auch unter den Patienten, die eine intensivmedizinische Behandlung bekommen, liegt die Sterblichkeit laut dem Hamburger Intensivmediziner Stefan Kluge bei 30 bis 50 Prozent. Von den Schwerkranken, die an eine künstliche Lunge angeschlossen werden müssen, schaffe es mehr als jeder Zweite nicht.
Gibt es schon heute eine Triage in den Kliniken?
Manche Mediziner sprechen bei der derzeitigen Lage in manchen Regionen bereits von latenter oder weicher Triage: Wenn etwa für einen Schlaganfallpatienten im näheren Umkreis kein Bett in einem spezialisierten Haus mehr frei ist.
Oder wenn eine für den nächsten Tag geplante OP mangels Kapazitäten um eine Woche verschoben werden muss, was negative Folgen für den Erkrankten haben kann. „Das ist ein Zwang, in den wir gestoßen werden, der so nicht sein müsste, wenn die Pandemie unter Kontrolle wäre“, sagte Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Uniklinik Köln, Michael Hallek, kürzlich.
Bundesweit sind nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft bereits drei Viertel aller Kliniken nicht mehr im Normalbetrieb und müssen OPs aufschieben, meist handelt es sich demnach um orthopädische. Die derzeitige halbherzige Corona-Politik gehe zu Lasten Tausender notwendiger Krankenhausbehandlungen, kritisierte der Verein Medizinrechtsanwälte. „100.000 Covid-19-Tote sind nicht die einzigen Toten dieser Pandemie.“ Schon seit Wochen würden notwendige Behandlungen in Krankenhäusern verschoben.
Kritisch wird es demnach etwa, wenn Chemotherapien bei Krebskranken in niedrigerer Stärke vorgenommen werden, um eine Intensivpflichtigkeit zu verhindern, oder wenn Tumoroperationen verschoben werden, auch auf die Gefahr hin, dass es zu Metastasierungen kommt.
Droht eine Triage, wenn die Zahl der Covid-19-Fälle weiter steigt?
„Eine Triage wäre eine Bankrotterklärung des deutschen Gesundheitswesens“, sagte der Intensivmediziner Christian Karagiannidis kürzlich im NDR-Podcast „Coronavirus-Update“. „Triage würde ja bedeuten, dass man das Leben eines Patienten beendet zugunsten eines anderen Patienten.“ Angesichts der großen Krankenhauskapazität dürfe das in Deutschland einfach nicht passieren. „Was aber passieren kann - und was auch passiert - ist, dass es eine gewisse Priorisierung gibt.“
Wie sieht diese „Priorisierung“ in der Praxis aus?
Karagiannidis nannte ein Beispiel: In einer Klinik mit acht Betten mit künstlicher Lunge sind sieben belegt. Mehrere Krankenhäuser aus der Umgebung fragen, ob sie das freie Bett für einen ihrer Patienten haben können, „und dann muss man natürlich eine Auswahl treffen“.
Je höher der Druck und je geringer die Kapazitäten, desto mehr müsse priorisiert werden, „dass gewisse Patienten in den großen Kliniken behandelt werden und die Patienten, die vielleicht hochaltrig sind und eine schlechte Prognose haben, dann halt da kein Bett bekommen.“
Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, weist darauf hin, dass der Anteil von über 80-jährigen Intensivpatienten mit Covid-19 niedrig sei im Vergleich zu ihrem hohen Anteil an den Corona-Toten. Krankenhaus-Triage sei „reine Theorie“ und bleibe in aller Munde, meint er. „Hingegen real ist die Altenpflege-Triage, die aber kaum wahrgenommen wird.“ Brysch verlangt Aufklärung: Es reiche nicht aus zu behaupten, alte Menschen wollten grundsätzlich keine lebenserhaltenden Maßnahmen. „Selbst in Patientenverfügungen wird oft nicht per se ein klinischer Aufenthalt ausgeschlossen.“
Welche Folgen hat das Vorgehen für Nicht-Corona-Patienten?
Große Kliniken „arbeiten derzeit Prioritätenlisten ab“, sagte Jürgen Graf, Ärztlicher Direktor des Frankfurter Uniklinikums und Leiter des Planungsstabs für die stationäre Versorgung der Covid-19-Patienten in Hessen. Die meisten Behandlungsfälle in seinem Haus sind Not- und Akutfälle. Sie würden wie immer nach Dringlichkeit versorgt. „Wir kommen jetzt in einen Bereich, wo wir tagesaktuell priorisieren müssen, welche Leistungen können wir noch vorhalten und welche nicht.“
Dabei gehe es ausdrücklich nicht darum, dass eine Klinik keine Covid-19-Patienten aufnehmen kann oder möchte. Das Kapazitätsproblem betreffe alle Erkrankungen. Patienten, die eine akutmedizinische Versorgung brauchten, fänden unter Umständen nicht die geeignete Versorgung.
Wie sieht die rechtliche Situation aus?
Juristin Tatjana Hörnle vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht unterscheidet zwischen „Ex ante“-Triage“ - zwei Patienten kommen gleichzeitig an und nur ein Bett ist frei - und „Ex-Post-Triage“ - ein Patient ist schon da, ein zweiter mit besseren Überlebenschancen kommt dazu.
Im ersten Fall gebe es kein ernsthaftes Strafbarkeitsrisiko, führte Hörnle aus. Es liege kein Totschlag durch Unterlassen vor, die Auswahlkriterien der Retter würden nicht überprüft. Im zweiten Fall käme nach dem Gesetz ein Totschlag durch Unterlassen in Frage. Wie das im Einzelfall bewertet wird, da „gehen die Meinungen in der strafrechtlichen Diskussion weit auseinander“.
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