London (dpa)
„99 Probleme“ für Johnson: Premier unter Druck wie nie
Nur mit Hilfe der Opposition bekommt Boris Johnson wichtige Verschärfungen der Corona-Regeln durchs Parlament. Der britische Premier ist schwer angeschlagen.
Nach einer emotionalen Abstimmung über Corona-Regeln und einer parteiinternen Revolte ist der britische Premierminister Boris Johnson politisch schwerer angeschlagen denn je zuvor.
Zwar konnte sich der Regierungschef ausnahmsweise in der Corona-Pandemie als Mahner und Macher präsentieren. Allerdings bekam er seine Pläne für 3G-Regeln in Discos und bei Großveranstaltungen nur mit Hilfe der Opposition durchs Unterhaus.
99 Abgeordnete seiner Konservativen Partei stimmten dagegen; Johnson hat eine Mehrheit von 79 Sitzen. Der Premier habe nun 99 Probleme, schrieb das Online-Portal „Politico“ angesichts der bisher größten Tory-Rebellion gegen ihn.
Mit Zuckerbrot für die eigenen Reihen und Peitsche für die Opposition versuchte Johnson am Mittwoch, in die Offensive zu kommen. „Ich respektiere die berechtigten Ängste der Kollegen“, sagte der Premier mit Blick auf die Einschränkungen persönlicher Freiheiten. Der Labour-Partei, die ihn schwer anzählte, warf Johnson politische Spielchen vor: „Wir liefern, sie beschweren sich.“ Dabei scheint es, als habe der Premier seinen eigenen Laden nicht im Griff.
Schäden für die Wirtschaft befürchtet
Tory-Abgeordnete verschiedener Strömungen lehnen neue Corona-Regeln strikt ab. Sie befürchten erhebliche Schäden für die Wirtschaft, wenn Zutritt zu Veranstaltungen nur mit einem Nachweis einer Impfung, Genesung oder eines negativen Tests möglich ist. Selbst ein Besuch Johnsons beim einflussreiche 1922-Komitee konservativer Hinterbänkler bewirkte nichts.
99 Abweichler - das waren mehr, als selbst führende Rebellen erwartet hatten. Dass Johnson dennoch zu behaupten schien, er habe die Abstimmung mit Stimmen seiner Konservativen Partei gewonnen, verblüffte nicht nur Labour-Chef Keir Starmer.
„Schmerzensschrei“ der Konservativen
Von einem „Schmerzensschrei“ der Konservativen ist die Rede, die in den Nachweisen eine erhebliche Beschneidung der individuellen Freiheiten und der persönlichen Verantwortung sehen. Johnson müsse erkennen, dass seine Position gefährdet sei, sagte der Tory-Veteran Geoffrey Clifton-Brown dem Sender Sky News. „Wenn er das nicht tut, wird er in noch viel größerer Gefahr sein.“
Nun macht Johnson Zugeständnisse. Natürlich werde das Parlament abstimmen, falls wegen der rasanten Ausbreitung der Corona-Variante Omikron die Regeln weiter verschärft werden müssten, versicherte er im Parlament.
Doch klar ist: Beschränkungen für Pub-Besuche oder gar neue Kontaktverbote dürften bei den Tories zu einer Eskalation führen. Damit sind Johnson ausgerechnet jetzt, da Omikron um sich greift, die Hände gebunden. Johnson sei zu schwach, um zu führen, sagte Oppositionsführer Starmer.
Auf Dauer dürfte es ein konservativer Premier nicht überleben, wenn er auf Labour-Stimmen angewiesen ist, sind britische Medien sicher.
Wegen Omikron: Lage in London außer Kontrolle
Tatsächlich könnte Johnson bald zum Handeln gezwungen sein. Experten schätzen, dass sich alleine am Mittwoch landesweit 300.000 bis 400.000 Menschen mit Omikron infizieren. Vor allem in London sei die Lage außer Kontrolle, die Variante dürfte in Kürze im Land dominieren. Bis Jahresende könnte es eine Million Fälle pro Tag geben. Zurückhaltende Schätzungen gehen davon aus, dass eine Million Menschen die Feiertage in Selbstisolation verbringen müssen. Die Chefin der Gesundheitsbehörde UKHSA, Jenny Harries, nannte Omikron die „wahrscheinlich größte Bedrohung seit Beginn der Pandemie“.
Zwar gibt Johnson lautstark den Krisenmanager. Tatsächlich muss er sich aber um das angeschlagene Image von Partei und Regierung kümmern. Grund sind gleich mehrere Weihnachtsfeiern während des Corona-Lockdowns vor einem Jahr in der Downing Street. An einer soll Johnson selbst teilgenommen haben. Bald wird das Ergebnis eines internen Berichts erwartet, der klären soll, ob dabei Corona-Regeln verletzt wurden.
Noch mehr Wirbel bei Tories
Inzwischen traf es einen prominenten Tory: Der frühere Bürgermeisterkandidat für London, Shaun Bailey, trat von seinen öffentlichen Aufgaben zurück, nachdem die Zeitung „Daily Mirror“ ein Foto veröffentlicht hatte, das ihn und zahlreiche Mitarbeiter im Dezember 2020 vergnügt und ohne Maske oder Abstand bei einer Weihnachtsfeier zeigt. Es gab sogar ein Büfett.
Das Bild kommt zur Unzeit. An diesem Donnerstag steht eine Nachwahl für ein Parlamentsmandat an. Der bisherige Abgeordnete Owen Paterson, ein Parteifreund Johnsons, musste wegen seiner Verwicklung in einen Lobby-Skandal zurücktreten. Nun drohen die Tories den Sitz in ihrer westenglischen Hochburg North Shropshire an die Liberaldemokraten zu verlieren. Der Druck auf Johnson dürfte in diesem Falle noch steigen.
© dpa-infocom, dpa:211215-99-385936/11