Berlin (dpa)
Deutsches Klimaziel für 2030 in Gefahr
Die Bundesrepublik entfernt sich weiter von seinen selbst gesteckten Klimazielen, bemängeln Experten. Je länger sich dieser Trend fortsetze, desto mehr Anstrengungen seien später nötig.
Deutschland riskiert, sein Klimaziel für das Jahr 2030 nach Berechnungen der Denkfabrik Agora Energiewende zu verfehlen.
„Einerseits ist 2021 das Jahr, in dem sich Deutschland die ambitioniertesten Klimaziele in der Geschichte der Bundesrepublik gesetzt hat“, erklärte Simon Müller, Deutschland-Direktor bei Agora und einer der Studienautoren. „Andererseits wächst die Umsetzungslücke weiter, die die neue Bundesregierung jetzt dringend mit wirksamen Klimaschutzmaßnahmen schließen muss.“ Das Papier mit dem Titel „Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2021“ liegt der Deutschen Presse-Agentur vor.
Anstieg von 33 Millionen Tonnen CO2 im Vergleich zu 2020
Der Ausstoß klimaschädlicher Gase betrug nach vorläufigen Agora-Berechnungen im vergangenen Jahr 772 Millionen Tonnen Kohlendioxid (CO2). Das umfasst wie üblich andere Treibhausgase, die zur besseren Vergleichbarkeit in CO2 umgerechnet wurden. Das bedeutet einen deutlichen Anstieg von 33 Millionen Tonnen im Vergleich zu 2020, als die deutsche Wirtschaft einerseits aufgrund der Corona-Krise schwächelte und andererseits wegen günstiger Wetterverhältnisse besonders viel Strom aus Windenergie erzeugte. Hinzu kamen besonders kalte Monate zum Jahresbeginn 2021.
Aber auch jenseits solcher Einmaleffekte entferne sich Deutschland vom Pfad der CO2-Einsparungen, die pro Jahr durchschnittlich nötig wären, um das Klimaziel der Bundesregierung für 2030 zu erreichen, bemängeln die Agora-Experten. Bis dahin soll der Ausstoß an Treibhausgasen laut Klimaschutzgesetz um 65 Prozent niedriger sein als im Jahr 1990. Je länger sich der derzeitige Trend fortsetze, desto mehr Anstrengungen seien später nötig. „Durch den Emissionsanstieg 2021 müssen wir ab jetzt jedes Jahr im Schnitt 37 Millionen Tonnen CO2 einsparen, um das 2030er Ziel einzuhalten“, sagte Co-Autor Müller.
Anteil erneuerbarer Energien noch niedrig
Ein wichtiger Grund für die gestiegenen CO2-Emissionen sind laut Studie auch die relativen Preise verschiedener Energieträger. Der Anteil erneuerbarer Energien sei noch vergleichsweise niedrig, hinzu kämen dramatisch gestiegene Gaspreise. Die im Gegenzug steigende Attraktivität klimaschädlicher Kohle als Energieträger könne auch der CO2-Preis nicht ausgleichen, bei dem Unternehmen Rechte zum Ausstoß klimaschädlicher Gase kaufen müssen.
Dazu passen die Ergebnisse einer veröffentlichten Kurzanalyse des Energiewissenschaftlichen Instituts der Universität Köln: Die rasant steigenden Gaspreise beförderten demnach die Nachfrage nach Kohle - und waren zugleich der Haupttreiber für steigende Strompreise.
Der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch lag laut Agora im vergangenen Jahr bei 42,3 Prozent, 3,3 Prozentpunkte weniger als im Jahr davor. SPD, Grüne und FDP haben sich im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, den Anteil auf 80 Prozent im Jahr 2030 zu steigern. Dazu brauche es „einen massiven und schnellen Ausbau von Wind- und Solaranlagen“, erklärte Müller. Das aktuelle Tempo reiche dafür nicht: So seien Windräder und Solaranlagen mit einer Gesamtleistung von nur 6,7 Gigawatt neu gebaut worden, wodurch zuletzt insgesamt 137 Gigawatt aus erneuerbaren Energien erzeugt worden seien. Solaranlagen machten drei Viertel des Zuwachses aus. Der Rest entfalle auf neue Windräder an Land. Auf See seien keine neuen Windenergieanlagen angeschlossen worden - zum ersten Mal seit zwölf Jahren.
Deutschland hat spezielle Ziele für verschiedene Wirtschaftssektoren. Während Industrie, Stromsektor und Landwirtschaft nach Agora-Berechnungen ihre Ziele für 2021 erreicht haben, verfehlten Gebäudesektor und Verkehr sie.
Endgültige Daten erst mit ungefähr zwei Jahren Verzug
Die Analysen von Agora Energiewende beruhen unter anderem auf Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen, aber auch eigenen Berechnungen. Die Zahlen sind noch vorläufig. Eigene vorläufige Zahlen zum CO2-Ausstoß für 2021 wird die Bundesregierung noch vorstellen. Endgültigere Daten gibt es erst mit ungefähr zwei Jahren Verzug.
Noch für das laufende Jahr forderte die Denkfabrik von der Politik eine „Ausbauoffensive für Solarenergie“, wie Müller sagte. Zudem müssten genug Flächen für die Windkraft gesichert werden und der Aus- und Umbau der Energienetze geplant werden. Bundesklimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) hatte vor kurzem zusätzliche Anstrengungen beim Klimaschutz angekündigt. „Wir werden unsere Ziele vermutlich auch für 2022 noch verfehlen, sogar für 2023 wird es schwer genug“, sagte er der Wochenzeitung „Die Zeit“. Mit Blick auf die Reduktion von klimaschädlichen Treibhausgasen erklärte er: „Wir fangen mit einem drastischen Rückstand an.“
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