Heidelberg (dpa)

Protokoll der Panik - Ermittler suchen nach Motiv

Nico Pointner und Julia Giertz, dpa
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Von Nico Pointner und Julia Giertz, dpa
| 25.01.2022 04:47 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Ein Polizeiauto und Sichtschutz stehen auf dem Gelände der Heidelberger Universität am Tatort eines Amoklaufes. Foto: Sebastian Gollnow/dpa
Ein Polizeiauto und Sichtschutz stehen auf dem Gelände der Heidelberger Universität am Tatort eines Amoklaufes. Foto: Sebastian Gollnow/dpa
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Auch am Tag nach dem Amoklauf von Heidelberg ist das Entsetzen groß. Warum schießt ein junger Student mit einem Gewehr auf Kommilitonen? Die Polizei hofft, bald Licht ins Dunkel bringen zu können.

Es ist ein Protokoll der Panik, über das Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl am Dienstag minutiös referiert.

Um 12.24 Uhr am Montag gehen in Heidelberg sieben Notrufe bei der Polizei ein. Sechs Minuten später fahren drei Streifenwagen auf dem Campus vor. Um 12.33 Uhr haben die Beamten bereits ihre Schutzausrüstung angelegt und beginnen, das Universitätsgebäude zu durchkämmen, Raum für Raum.

Um 12.43 Uhr stehen sie in dem Hörsaal, in dem die Schüsse gefallen sind, die nicht nur Heidelberg in Schockstarre versetzen: Ein 18-jähriger Student läuft Amok, schießt einer 23-jährigen Frau in den Kopf, sie stirbt am Montagnachmittag an den Folgen. Drei weitere Studenten werden verletzt. Um 12.51 finden die Polizisten den Täter außerhalb des Gebäudes auf - tot, er hat sich wohl selbst erschossen.

Was den jungen Mann dazu brachte, im Hörsaal um sich zu schießen, ist auch einen Tag nach der Tat rätselhaft. Um 12.32 Uhr, also nur wenige Minuten nach den Notrufen, meldete sich der Vater des Täters bei der Polizei, teilte den Beamten mit, sein Sohn habe ihm die Tat per WhatsApp angekündigt. Der Student schrieb dabei nach Polizeiangaben, „dass Leute jetzt bestraft werden müssen“. Wann die Nachricht des Sohnes genau beim Vater eintraf, konnte Strobl am Dienstag nicht sagen.

Ermittlungsgruppe „Botanik“

Nun sei die Stunde der Ermittler, betont der Minister immer wieder. „Die Wissenschaft weltweit schaut mit Erschrecken und fragend nach Heidelberg.“ Er sei sich sicher, dass es gelingen werde, rasch Licht ins Dunkel zu bringen. Eine Ermittlungsgruppe mit 32 Beamten und dem Namen „Botanik“ hat die Arbeit aufgenommen. Der Name ist darauf zurückzuführen, dass das betroffene Uni-Gebäude an den botanischen Garten grenzt.

Die Ermittler konzentrieren sich vor allem auf das Motiv des Attentäters, durchleuchten das Umfeld des Studenten. Die Polizei wertet zudem digitale Geräte aus, die das Spezialeinsatzkommando (SEK) bei der Durchsuchung seiner Wohnung sichergestellt hat. Er sei zuversichtlich, dass die Auswertung Hinweise auf die Motivlage geben könnte, sagt Strobl. Zudem werden die beiden Leichen am Universitätsklinikum Heidelberg rechtsmedizinisch untersucht.

Klar ist: Der Schütze war erst 18 Jahre alt und Deutscher, er lebte in Mannheim, studierte Biologie und war der Polizei bislang nie aufgefallen. Am Dienstag berichtet der „Mannheimer Morgen“, dass der Mann im Berliner Stadtteil Wilmersdorf aufgewachsen sein soll. Es gebe keinerlei Hinweise auf eine politisch oder religiös motivierte Tat, sagt Strobl. Er habe gehört, dass der Täter in psychischer Behandlung gewesen sein soll, aber das sei Gegenstand laufender Ermittlungen. Der Innenminister vermag auch nicht zu sagen, ob sich der Täter und das Todesopfer kannten.

Wegen subjektiv wahrgenommener Kränkungen?

Generell könne ein Mensch zum Amokläufer werden, „weil er die vorhandenen oder die subjektiv wahrgenommenen Kränkungen von der Kindheit übers Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter als besonders schlimm erlebt“, sagt der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz dem Radiosender SWR Aktuell. Amokläufer haben bei tödlichen Angriffen wie dem in Heidelberg ein gemeinsames Denkmuster. „Er hat eine grandiose Art des Untergehens gesucht“, so Gallwitz. „Ein Suizid war ihm letztlich einfach zu banal.“ Die Täter seien keine Einzelgänger und „auch nicht immer nur Leute, die schwer psychisch krank sind“.

Auch die Frage, wie der Biologie-Student an die beiden Langwaffen kam, von denen er eine für den Amoklauf nutzte, ist noch unbeantwortet. Der 18-Jährige soll die Gewehre vor wenigen Tagen im Ausland gekauft haben. In seinem Rucksack hatte er noch 100 Schuss Munition. Der baden-württembergische Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, sagte, bei einem Repetiergewehr und einer Schrotflinte handele es sich um nicht leicht handhabbare Waffen, die meist Jäger nutzten und für andere in Deutschland legal kaum zu erwerben seien.

Blick auf die Opfer und Angehörigen

Gleichzeitig richtet sich der Blick der Politik auf die Opfer, die Angehörigen und die, die den Anschlag miterleben mussten. 30 Studenten waren im Hörsaal, als die Schüsse fielen. Die Heidelberger Studierendenvertretung erinnert mit einer digitalen Gedenkfeier an die getötete Studentin. Die drei Verletzten werden derweil am Dienstag nach ihren ambulanten Behandlungen in einer Klinik wieder entlassen. Sie befinden sich laut Polizei auf dem Weg der körperlichen Besserung. Am kommenden Montag ist in der Heidelberger Peterskirche eine zentrale Trauerfeier geplant.

Das baden-württembergische Landeskabinett gedenkt am Dienstag der Opfer in einer Schweigeminute. „Diese schreckliche Gewalttat hat uns wirklich tief getroffen und erschüttert“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Er und Strobl rufen die Betroffenen auf, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Man sei auf 26 Studentinnen und Studenten und auf zwei Angehörige bereits zugegangen, berichtet Strobl. „Die Universität soll und wird ein angstfreier Raum bleiben für junge Menschen.“

Das Erlebte könne zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen, wenn die Betroffenen nicht behandelt würden, warnt Gewerkschaftschef Kusterer. „Das werden sie ihr Leben lang nicht vergessen.“

© dpa-infocom, dpa:220125-99-837799/10

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