Yanqing (dpa)
Rekorde und Tränen: Geisenberger schreibt Rodel-Geschichte
Im Vorfeld der Winterspiele von Peking dachte Natalie Geisenberger an einen Boykott. Nun ist die Rodlerin an Goldmedaillen gemessen gleichauf mit Claudia Pechstein deutsche Rekordhalterin.
Nach ihrer Triumph-Fahrt in die olympischen Geschichtsbücher schüttelte Natalie Geisenberger immer wieder ungläubig den Kopf und wischte sich die Freudentränen aus den Augen.
Die 34-Jährige krönte sich im Eiskanal von Yanqing nicht nur zur ersten dreimaligen Rodel-Olympiasiegerin im Einzel, sondern steht nach ihrem insgesamt fünften Gold auf einer Stufe mit Deutschlands Winter-Rekordhalterin Claudia Pechstein. Anna Berreiter rundete mit Silber bei ihrer Olympia-Premiere das starke deutsche Ergebnis ab.
„Es war das Ziel, dass ich noch mal um eine Medaille mitfahren kann. Dass es für Gold reicht, ist Wahnsinn. Dafür habe ich keine Worte. Danke an meine Familie, die Medaille gehört uns“, sagte Geisenberger. „Unterm Strich kann man sagen, natürlich ist sie eine Rodelkönigin. Ich hatte Natalie schon als Jugendtrainer betreut, bin 25 Jahre ihren Weg mitgegangen“, sagte Cheftrainer Norbert Loch. Deutschlands Chef de Mission Dirk Schimmelpfennig sprach von einem „großartigen Ergebnis für das Team“: „Besonders für Natalie als Rekord-Olympiasiegerin mit dem dritten Einzelgold und auch für Anna.“
„Anspannung war gigantisch“
Mit der Deutschland-Fahne auf dem Rücken rutschte Geisenberger unmittelbar nach ihrer Goldfahrt auf Knien durch den vereisten Zielbereich in den Bergen nördlich von Peking und fiel Felix Loch in die Arme. Nach vier Läufen lag die Athletin des SV Miesbach 0,493 Sekunden vor ihrer Teamkollegin Berreiter. „Es ist einfach nur überwältigend, dass ich das jetzt in den Händen halten darf“, sagte Berreiter. Bronze sicherte sich die Russin Tatjana Iwanowa, die im zweiten Lauf gestürzte Top-Favoritin Julia Taubitz wurde Siebte.
In Yanqing feierte Geisenberger mit der in Tränen aufgelösten Berreiter, Loch und dem gesamten deutschen Team. Zu Hause in Bayern ließ es die Familie krachen. „Die Anspannung war gigantisch, wie vor vier Jahren auch. Der Puls ist immer noch oben“, sagte Geisenbergers Ehemann Markus in der ARD. In China hatte Geisenberger eine Kette mit dem Hand- und Fußabdruck des im Mai 2020 geborenen Sohn Leo als Anhänger dabei.
Nächste Gold-Chance am Donnerstag
Als erste Rodlerin entschied Geisenberger nach Siegen in Sotschi 2014 und Pyeongchang 2018 die Einzel-Konkurrenz zum dritten Mal nacheinander für sich. Seit den Spielen 1998 in Nagano hat stets eine Deutsche das olympische Rodelrennen gewonnen. Schon am Donnerstag kann Geisenberger ihr sechstes Gold gewinnen und an Pechstein vorbeiziehen.
Dann wird die neunmalige Weltmeisterin mit Olympiasieger Johannes Ludwig und einem noch zu nominierenden Doppelsitzer-Duo im Teamwettbewerb starten. Bereits die ersten beiden Team-Konkurrenzen in Sotschi und Pyeongchang hatte Deutschland jeweils für sich entschieden. „Jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Claudia ist das achte Mal bei Olympischen Spielen, das werde ich definitiv nicht erreichen. Mein Weg war, so wie er ist, super. Mehr hätte ich nicht erreichen können“, sagte Geisenberger.
Geisenberger ging im dritten Lauf als erste Athletin in die 1475 Meter lange Bahn in den Bergen nördlich von Peking. Mit der Startnummer eins sendete sie mit dem Bahnrekord von 58,226 Sekunden gleich ein Zeichen an die Konkurrenz. Die direkt im Anschluss kommende Berreiter behielt ebenfalls die Nerven und festigte ihren zweiten Platz, lag vor dem Finale 0,330 Sekunden hinter Geisenberger. Wie schon am Vortag hatten einige Fahrerinnen Probleme mit der Kurve 13, in der Taubitz gestürzt war.
Geisenberger dachte über Verzicht nach
Im Vorfeld der Spiele hatte Geisenberger offen über einen Verzicht nachgedacht. Zu schockierend waren die Ereignisse eines dreiwöchigen Aufenthalts in China vor dem Saisonauftakt. Trotz negativer Tests mussten die Sportler in Isolation bleiben, bekamen kein vernünftiges Essen und durften die Zimmer nur zum Training verlassen. Bei einer stundenlangen Busfahrt durften die Athleten nicht auf die Toilette, stattdessen wurde ein Kanister gereicht. Die Teilnahme an einem Weltcup in China schloss Geisenberger kategorisch aus. Während der Spiele war ihr Tonfall milder geworden, sie sprach davon, dankbar zu sein, trotz der Pandemie in China sein zu können.
Geisenberger ist erst die zweite Mama mit olympischem Rodel-Gold. Vor ihr fuhr Steffi Martin 1984 aufs oberste Treppchen und wiederholte den Triumph vier Jahre später als Steffi Walter und Mutter erneut. In die Rennen war Geisenberger trotz aller Erfolge mit geringen Erwartungen gegangen: „Ich zähle mich zu den besten Acht und würde gerne vorne dabei sein.“ Nun darf sie sich deutsche Olympia-Rekordlerin bei Winterspielen nennen.
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