Istanbul/Moskau/Kiew (dpa)

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

| 29.03.2022 05:28 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
Ein ukrainischer Soldat steht inmitten von Trümmern in einem Büro im Gebäude der Regionalverwaltung von Charkiw. Foto: Svet Jacqueline/ZUMA Press Wire Service/dpa
Ein ukrainischer Soldat steht inmitten von Trümmern in einem Büro im Gebäude der Regionalverwaltung von Charkiw. Foto: Svet Jacqueline/ZUMA Press Wire Service/dpa
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Moskau fährt Militär-Aktivitäten bei Kiew und Tschernihiw zurück +++ Pentagon warnt vor neuer russischer Militäroffensive +++ Westliche Fünfer-Runde drängt Putin zu Waffenruhe

Nach neuen Verhandlungen mit der Ukraine hat Russland zugesagt, seine Kampfhandlungen an der nördlichen Front bei Kiew und Tschernihiw deutlich zurückzufahren.

So soll Vertrauen aufgebaut werden, wie Vize-Verteidigungsminister Alexander Fomin am Dienstag nach dem Treffen in Istanbul sagte. Moskaus Delegationsleiter Wladimir Medinski lobte die mehrstündigen Gespräche als konstruktiv. Russland sei daher bereit, Schritte zur Deeskalation zu gehen, dies sei aber kein Waffenstillstand. Er sagte, Kiew wolle unter anderem die Möglichkeit eines EU-Beitritts aushandeln.

Die ukrainische Regierung bekräftigte nach dem Treffen ihre grundsätzliche Bereitschaft, einen Vertrag über einen neutralen, block- und atomwaffenfreien Status zu schließen. Im Gegenzug seien aber harte Garantien westlicher Staaten für die Sicherheit der Ukraine nötig, möglichst nach dem Vorbild der Nato-Militärallianz. Gebietsabtretungen an Russland lehnte Kiew als indiskutabel ab.

Moskau hatte sein Nachbarland Ukraine nach einem monatelangen Truppenaufmarsch vor gut vier Wochen überfallen. Vor einigen Tagen hatte Russlands Verteidigungsministerium mitgeteilt, sich nun auf die komplette Eroberung des Donbass in der Ostukraine zu konzentrieren, wo schon seit 2014 gekämpft wird.

Kiew: Brauchen Sicherheitsgarantie westlicher Staaten

Das ukrainische Delegationsmitglied David Arachamija sagte zu den geforderten Sicherheitsgarantien, diese sollten von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats wie den USA, Frankreich, Großbritannien, China oder Russland kommen. Dazu zählen könnten auch die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen, Israel und andere Länder. Formuliert sein sollten sie ähnlich wie Artikel fünf des Nato-Vertrages. Demnach sind die Mitglieder zum militärischen Beistand im Fall eines Angriffs auf einen der Partner verpflichtet.

Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagte, dass die Frage der von Russland annektierten ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim nach dem Ende der Kampfhandlungen diskutiert werden solle - und zwar innerhalb von 15 Jahren. Ebenso ausgeschlossen von einer aktuellen Friedenslösung solle der Status der von moskautreuen Separatisten beherrschten Gebiete Donezk und Luhansk im Donbass werden.

Unterhändler der Ukraine und Russlands hatten sich zuvor schon dreimal im Grenzgebiet von Belarus getroffen, danach gab es etliche Videoschalten.

Russlands schien am Nachmittag seine Ankündigung in die Tat umzusetzen: Der ukrainische Generalstab teilte mit, im Gebiet um die Hauptstadt Kiew und die nordukrainische Großstadt Tschernihiw werde der Abzug einzelner russischer Einheiten beobachtet. In den Wochen zuvor waren bei Angriffen auf Tschernihiw nach Angaben örtlicher Behörden bereits mehr als 350 Menschen ums Leben gekommen.

US-Präsident Joe Biden reagierte zurückhaltend auf die russische Ankündigung, die Kampfhandlungen zurückzufahren. Er wolle dies nicht bewerten, bis er „die Handlungen“ der Russen sehe, sagte er.

Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am Abend in Düsseldorf, Putin verfolge „eine sehr imperialistische Vision“, doch seien seine Kalküle allesamt nicht aufgegangen. So habe er völlig übersehen, dass die Ukrainer eine eigene Nation sein wollen und dass er und seine Armee keineswegs mit offenen Armen empfangen werden.

Paris: Putin denkt über Evakuierung für Mariupol nach

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron telefonierte mit Putin, um eine Evakuierungsmission für die belagerte Hafenstadt Mariupol zu ermöglichen. Macron habe angesichts der katastrophalen humanitären Lage auf einen Waffenstillstand für die Versorgung und Evakuierung gepocht, hieß es am Abend aus dem Élyséepalast. Putin habe zugehört und zugesichert, über den Vorstoß nachzudenken und sich zurückzumelden. Frankreich strebt die Hilfsaktion gemeinsam mit der Türkei und Griechenland unter dem Dach der Vereinten Nationen an.

Zuvor hatte sich Macron mit den Staats- und Regierungschefs der USA, Deutschlands, Großbritanniens und Italiens abgesprochen. Sie sagten laut Bundesregierung der Ukraine gemeinsam weitere tatkräftige Unterstützung zu. Überdies drängten sie demnach Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, seine Soldaten abzuziehen und eine diplomatische Lösung zu ermöglichen. Das Quintett forderte Putin auch auf, die Lieferung humanitärer Hilfe in die Ukraine endlich zuzulassen sowie effektive humanitäre Korridore einzurichten, insbesondere in Mariupol.

Der britischen Regierung zufolge wäre selbst ein möglicher Waffenstillstand keine Grundlage für eine Aufhebung von Sanktionen gegen Moskau. Stattdessen fordere man einen vollständigen Abzug aller russischen Truppen aus dem Land. US-Außenminister Blinken erklärte in Marokko: „Es gibt das, was Russland sagt. Und es gibt das, was Russland tut. Wir konzentrieren uns auf das Letztere.“

Kiew: Kämpfe gehen trotz Gegenoffensive weiter

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Morgen berichtet, russische Einheiten seien aus der wochenlang umkämpften Stadt Irpin bei Kiew zurückgeschlagen worden. Die Kämpfe dauerten jedoch dort und auch in anderen Landesteilen an. Russische Truppen hielten dem Präsidenten zufolge den Norden des Kiewer Gebiets unter Kontrolle. Sie versuchten, zerschlagene Einheiten wieder aufzubauen. Auch in den Gebieten Tschernihiw, Sumy, Charkiw, Donbass und im Süden der Ukraine bleibe die Lage „sehr schwierig“. Selenskyj forderte erneut schärfere Sanktionen gegen Russland.

In einer Videoschalte im dänischen Parlament sprach Selenskyj außerdem über die Lage in Mariupol. Was die russischen Truppen dort machten, sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er fragte, warum die Welt nicht eingegriffen habe.

Pentagon warnt vor neuer Militäroffensive

Derweil sieht das US-Verteidigungsministerium die russische Ankündigung, die Kampfhandlungen im Norden der Ukraine deutlich zu drosseln, als taktisches Manöver und warnt vor einer neuen Militäroffensive in anderen Landesteilen. Man dürfe sich trotz der russischen Erklärung „nichts vormachen“, sagte der Sprecher des Pentagons, John Kirby, am Dienstag. Es sei bislang nur zu beobachten, dass sich „eine sehr kleine Zahl“ russischer Truppen nördlich von Kiew von der Hauptstadt wegbewege. „Wir sind nicht bereit, die russische Begründung zu glauben, dass es ein Abzug ist“, sagte er.

Es sei möglich, dass die Soldaten dort nur abgezogen würden, um in einem anderen Teil der Ukraine, etwa der umkämpften östlichen Donbass-Region, eingesetzt zu werden. „Wir glauben, dass es sich um eine Repositionierung handelt, nicht um einen Abzug, und dass wir alle vorbereitet sein sollten, eine größere Offensive gegen andere Teile der Ukraine zu erwarten“, sagte Kirby.

Kreml droht weiter mit Einstellung von Gaslieferungen

Der Kreml hielt auch die Drohung aufrecht, Russland könne die Gaslieferungen nach Westeuropa einstellen, wenn die Abnehmerländer - darunter Deutschland - die Forderung weiter ablehnen, in Rubel statt in Dollar und Euro zu zahlen. Dies würde die wegen vieler harter Sanktionen unter Druck geratene Währung stützen, weil sich der Westen Rubel beschaffen müsste.

„Keine Bezahlung - kein Gas“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow dem amerikanischen TV-Sender PBS. Moskau wolle die endgültige Antwort der EU abwarten und dann die nächsten Schritte festlegen.

Kremlsprecher Peskow trat zugleich Spekulationen entgegen, Moskau könne im Ukraine-Krieg Atomwaffen einsetzen. „Niemand in Russland denkt an den Einsatz oder auch nur an die Idee eines Einsatzes von Atomwaffen“, sagte er im PBS-Interview. Russland greife zum Atomwaffenarsenal nur bei einer „Bedrohung der Existenz“. Die staatliche Existenz Russlands und die Ereignisse in der Ukraine hätten „nichts miteinander zu tun“. Die Sorge im Westen über mögliche Atomwaffenpläne Moskaus war gestiegen, als Putin zum Auftakt des Angriffskrieges in der Ukraine eine erhöhte Alarmbereitschaft der russischen Nuklearstreitkräfte anordnete.

© dpa-infocom, dpa:220329-99-709870/33

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