Meinung Schulabgänger sitzen an einem erstaunlich langen Hebel
Viele Lehrstellen in Ostfriesland bleiben unbesetzt. Firmen sollen nun auch schlechten Schülern eine Chance geben. Es ist ein Zeichen der Verzweiflung. Ein Kommentar.
In vielen Betrieben herrscht pure Verzweiflung. Der Fachkräftemangel ist auch in Ostfriesland für sie das Problem Nummer eins. Wenn ab dem kommenden Jahr die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen, wird sich dieser noch einmal verschärfen. Eigentlich wären junge Leute, die selbst ausgebildet werden, die Lösung. Doch die Zahl der Schulabgänger, die in dieser Woche in Handel, Handwerk, Gastronomie oder Industrie streben, ist viel zu gering. Die Lücke klafft. Und die jungen Abgänger sitzen an einem erstaunlich langen Hebel.
Ansprüche bis zur Schmerzgrenze heruntergeschraubt
Die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, aber auch hiesige Berufsberater empfehlen, Abgängern mit schlechten Noten eine Chance zu geben. Ein wohlmeinender Appell. Aber er zeigt auch die ganze Hilflosigkeit der Lage. Wenn plötzlich Fünfer- und Sechser-Kandidaten für diverse Jobs geeignet sein sollen, muss man sich fragen, ob in der Schule wirklich fürs Leben gelernt wird. Fünf in Mathe oder Deutsch: Ist jetzt alles egal? Wohl kaum. Eher ist es so, dass Chefs ihre Ansprüche mittlerweile bis zur Schmerzgrenze nach unten schrauben, um überhaupt noch jemanden zu bekommen. Vor diesem Hintergrund ist es keinem Unternehmer zu verdenken, wenn lieber gar nicht mehr ausgebildet wird, als sich mit ungeeigneten Lehrlingen herumzuschlagen.
Geburtenschwache Jahrgänge haben es leichter
Sicher, die Beschwerden über die Qualität der jungen Leute sind nicht neu. Es gibt sie in jeder Generation. Und sie sind nicht immer fair. Aber dass die jetzige Zeit tatsächlich anders ist, erklärt sich aus den Zahlen. Abgänger in geburtenschwachen Jahrgängen haben es leichter. Sie haben die große Auswahl, können sich die Rosinen herauspicken. Wer weniger beliebte Stellen ausschreibt, etwa in einer Bäckerei, muss schon den roten Teppich ausrollen und mit einer Kreuzfahrt oder einem Führerschein wedeln, um im Ringen um die begehrten Teenager konkurrieren zu können.
Wer umgarnt wird, schreibt die Ansprüche hoch
Viele Unternehmen werben gar nicht mehr um Kunden, die gibt es zum Glück in vielen Branchen noch genügend, sondern nur noch um Bewerber. Handwerksbetriebe suchen nach „Helden“, die eine Lehre beginnen wollen. Wer so umgarnt wird, schraubt die Ansprüche nach oben. Es ist zwar irgendwie ironisch, aber auch logisch, dass ausgerechnet jetzt, in Zeiten des Personalmangels, der Ruf nach der Vier-Tage-Woche besonders laut wird. Auch wenn das viele begrüßen, ist es kein gutes Zeichen für die Wirtschaft.