Rückblende Sicherheitsgurt: Angst um Freiheit und Busen

Uwe Prins
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Von Uwe Prins
| 09.08.2024 11:37 Uhr | Lesedauer: ca. 3 Minuten
„Erst gurten, dann spurten“ – das Motto der groß angelegten Werbekampagne aus den 70er Jahren haben die allermeisten Autofahrerinnen und Autofahrer inzwischen verinnerlicht, das Verhalten automatisiert: Tür auf, reinsetzen, anschnallen. Foto: Pixabay
„Erst gurten, dann spurten“ – das Motto der groß angelegten Werbekampagne aus den 70er Jahren haben die allermeisten Autofahrerinnen und Autofahrer inzwischen verinnerlicht, das Verhalten automatisiert: Tür auf, reinsetzen, anschnallen. Foto: Pixabay
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Seit Januar 1976 gilt die Anschnallpflicht – aber erst die Einführung eines Bußgelds vor 40 Jahren sorgte für den Durchbruch des Sicherheitssystems.

Ostfriesland - Manchmal muss man Menschen zu ihrem Glück zwingen – oder auch zu mehr Sicherheit. In Deutschland waren seit Mitte der 50er Jahre jährlich mehr als 15.000 Verkehrstote zu beklagen. Die Bundesregierung reagierte auf die dramatischen Zahlen mit der Einführung der Anschnallpflicht. Doch der ab dem 1. Januar 1976 gültige Paragraph 21a der Straßenverkehrsordnung beeindruckte die Autofahrernation nicht sonderlich. Warum auch? Was nützt ein Gesetz, wenn ein Verstoß keine Strafe nach sich zieht? Juristen sprechen in so einem Fall vom „Lex imperfecta“. Es dauerte jedenfalls bis 1984, ehe das Bundeskabinett die Anschnallpflicht reformierte. Ein Verstoß wurde künftig mit einem Bußgeld geahndet. Damals waren 40 D-Mark fällig, heute sind es 30 Euro. Und siehe da: Die Quote der Gurtmuffel sank binnen weniger Monate von 42 auf acht Prozent.

Rückläufig ist seither auch die Zahl der Todesopfer, wozu die damalige Einführung der 0,8-Promille-Grenze für Autofahrer sowie ein Tempolimit von 100 km/h auf Landstraßen ebenfalls beigetragen haben.

Klick: Wer sich anschnallt, minimiert das Verletzungsrisiko, falls es zu einem Unfall kommt. Das haben Forscher inzwischen in zahlreichen Studien bewiesen. Foto: State Farm
Klick: Wer sich anschnallt, minimiert das Verletzungsrisiko, falls es zu einem Unfall kommt. Das haben Forscher inzwischen in zahlreichen Studien bewiesen. Foto: State Farm
Aber: „Die Durchsetzung der Gurtpflicht durch Bußgelder gilt bis heute als die bisher erfolgreichste Einzelmaßnahme beim Personenschutz im Straßenverkehr“, heißt es in einer Stellungnahme der Björn-Steiger-Stiftung zum 40. Geburtstag der Reform. Die Entscheidung sei „politisch mutig und historisch bedeutsam“ gewesen“, lobt Siegfried Brockmann, Geschäftsführer der Stiftung.

Wer heute ins Auto einsteigt, greift automatisch zum Gurt. Die Quote der Anschnaller liegt inzwischen bei 98 Prozent. Aber 1976 wollte sich die große Masse nicht einschnüren lassen: „Männer fürchteten um ihre Freiheit, Frauen um ihren Busen“, analysierte Spiegel-Reporter Kai Posmik in einem Rückblick.

Die Bundesregierung gab ein Gutachten in Auftrag, das Ergebnis offenbarte, wie widersinnig Menschen sich oft verhalten: Die Mehrheit der Befragten räumte zwar ein, dass es sich beim Gurt um „ein notwendiges, da sinnvolles aktives Rückhaltesystem“ handle. Aber sich anschnallen, von diesem Sicherheitssystem profitieren? Nein. Es ist wie mit dem Rauchen: Die gesundheitlichen Risiken sind bekannt, aber selbst mit Lungenkrankheit oder verstopften Herzkranzgefäßen gelingt es vielen Betroffenen nicht, mit dem Qualmen aufzuhören.

Die Anfänge: Die zweite Generation des „Buckelvolvo“ (Modell PV 544) wurde ab 1959 serienmäßig mit Dreipunkt-Sicherheitsgurten ausgestattet. Foto: Pixabay
Die Anfänge: Die zweite Generation des „Buckelvolvo“ (Modell PV 544) wurde ab 1959 serienmäßig mit Dreipunkt-Sicherheitsgurten ausgestattet. Foto: Pixabay
Als die Anschnallpflicht im Januar 1976 eingeführt wurde, war sie übrigens zunächst nur für den Fahrer relevant. Erst drei Jahre später galt auch für den Beifahrer der Slogan einer bundesweiten Werbekampagne. „Erst gurten, dann spurten.“ Heute haben sich alle Insassen an dieses Motto zu halten. Und wer es nicht tut, wird im Falle einer Polizeikontrolle persönlich zur Kasse gebeten. Die 30 Euro Bußgeld muss nämlich nicht der Fahrer berappen, sondern der Gurtverweigerer.

Angeschnallt oder nicht – diese Frage stellen auch Versicherer, wenn es zu einem Verkehrsunfall mit Personenschaden gekommen ist. In vielen Fällen haben Gerichte zugunsten der Konzerne entschieden, wenn ein Unfallopfer nicht angegurtet gewesen ist. So sprach der Bundesgerichtshof im Jahr 2000 ein wegweisendes Urteil, das bis heute immer wieder als Präzedenzfall dient: Geschädigte, die bei einem Unfall nicht angeschnallt waren, haben einen Teil der Krankenhauskosten zu übernehmen (BGH AZ: VI ZR 411/99).

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www.oz-online.de/lebenswelten