Bedeutendster Chemiker-Preis Chemie-Nobelpreis für Vorhersage und Bau von Proteinen
Alle diesjährigen Preisträger für wissenschaftliche Nobelpreise stehen fest, alle sieben sind Männer. Nicht nur der Preis für Physik, auch der für Chemie hat mit Künstlicher Intelligenz zu tun.
Mit Künstlicher Intelligenz die Struktur von Proteinen vorhersagen und solche komplexen Moleküle zusammenbauen: Die diesjährigen Chemie-Nobelpreisträger haben das Feld der Proteinforschung revolutioniert. Die Auszeichnung geht zu einer Hälfte an David Baker (USA), zum anderen Teil an Demis Hassabis und John Jumper, die beide in Großbritannien bei der Google-Tochter DeepMind arbeiten, wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm mitteilte.
Proteine steuern nahezu alle Prozesse in Zellen. Ihre Funktion hängt maßgeblich von ihrer dreidimensionalen Struktur ab, der sogenannten Faltung. Baker (62) erhält den Preis für rechnergestütztes Proteindesign, Hassabis und Jumper für die Vorhersage der Faltung von Proteinen durch Künstliche Intelligenz (KI).
Freudenschreie am Telefon
„Ich fühle mich zutiefst geehrt“, sagte Baker, als er telefonisch zu der Preisbekanntgabe zugeschaltet wurde. Der Forscher in den USA war vom berühmten Anruf aus Stockholm aus nächtlichem Schlummer gerissen worden. Seine Frau habe vor Freude so laut zu schreien begonnen, dass er den Anrufer nicht gut habe verstehen können, sagte er. „Es war sehr, sehr aufregend.“
Hassabis (48) und der 1985 geborene Jumper hätten ein KI-Modell entwickelt, um ein jahrzehntealtes Problem zu lösen: die Vorhersage der Strukturen von Proteinen, hieß es vom Nobelkomitee weiter. Jumper zählt zu den wenigen Chemie-Nobelpreisträgern, die bereits vor ihrem 40. Lebensjahr mit der Auszeichnung geehrt werden. Der bislang jüngste Preisträger war im Jahr 1935 der damals 35-jährige Frédéric Joliot.
Vom Schachmeister zum Proteinzauberer
Hassabis, der schon als Vierjähriger Schach spielte und mit 13 Jahren Schachmeister wurde, programmierte als Jugendlicher Computerspiele und wandte sich dann der Künstlichen Intelligenz zu. 2010 gründete er das Unternehmen DeepMind mit, das KI-Modelle für Brettspiele wie Go entwickelte und 2014 an Google verkauft wurde. DeepMind erregte unter anderem Aufsehen, als die KI Go-Champions besiegte.
Danach begann Hassabis mit seinem Team, an der KI-gestützten Vorhersage von Proteinstrukturen zu arbeiten. Das Ergebnis von Hassabis‘ Forschung war das erste KI-Modell „AlphaFold“, das Proteinstrukturen mit einer Genauigkeit von fast 60 Prozent vorhersagte. Verbessert wurde es, als Jumper 2017 zum Unternehmen stieß. Gemeinsam leiteten er und Hassabis die Arbeit, die das KI-Modell grundlegend reformierte.
2020 präsentierte das Team „AlphaFold2“. Diese Version nutzt neuronale Netzwerke, um die Faltung von Proteinen anhand ihrer Aminosäurenabfolge vorherzusagen. Das Programm schneidet dabei fast so gut ab wie die Röntgenkristallographie, die fünf Jahrzehnte lang das gängigste, aber aufwändige Werkzeug für die Erstellung von Bildern verschiedener Proteine war.
„Das neue, KI-basierte Werkzeug hat zunächst einen Schock ausgelöst“, sagte der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Patrick Cramer. „Zehntausende Forscher haben ihre ganze Karriere damit verbracht, Proteinstrukturen zu ermitteln oder Wege zu finden, diese vorherzusagen“, sagte der Molekularbiologe. „Nun ist die Vorhersage mit einem Schlag gelungen.“
Immens gesteigerte Geschwindigkeit
Mit Hilfe von „AlphaFold2“ lasse sich aus der DNA oder der Abfolge von Aminosäuren sehr schnell die 3D-Struktur vorhersagen. Davor war das anders: „Ich habe während meiner Doktorarbeit ganze zwei Proteinstrukturen ermittelt“, erinnert sich Cramer. „Die KI hat die Regeln gelernt, nach denen die Natur Proteine faltet.“ Das sei mit Hilfe von rund 200.000 experimentell von Forschern bestimmten Proteinstrukturen gelungen. „Der Beitrag der weltweiten Forschercommunity war, über 50 Jahre lang diese Strukturen zu bestimmen und zu sammeln. So schufen sie eine Basis für das Training der KI.“
Inzwischen hat Google DeepMind „AlphaFold 3“ vorgestellt, das noch effizienter und genauer arbeitet. „Es ist eine Technologie, die die Lebenswissenschaften revolutioniert. Strukturen der Proteine werden verlässlich vorhergesagt und Veränderungen der Proteine, die Krankheiten zugrunde liegen, können schneller interpretiert werden“, erklärte MPG-Präsident Cramer.
Proteine aus dem KI-Baukasten
Neben der möglichst exakten Beschreibung blieb auch die Schaffung neuer Proteine lange Zeit nur ein Wunschziel chemischer Forschung - bis zur Arbeit von Baker. Der Biochemiker entwickelte an der University of Washington in Seattle Ende der 1990er Jahre die Software „Rosetta“ zur Vorhersage der Faltung von Proteinen.
Gemeinsam mit seinem Team kam Baker auf die Idee, das Programm umgekehrt zu nutzen: Anstatt Aminosäureabfolgen einzugeben und Proteinstrukturen zu erhalten, sollte es möglich sein, eine gewünschte Proteinstruktur einzugeben und Vorschläge für die Aminosäureabfolge zu erhalten. Das Ergebnis waren völlig neue, am Computer geschaffene Proteine.
Solche Proteine mit neuen Funktionen können zu „neuen Nanomaterialien, zielgerichteten Pharmazeutika, einer schnelleren Entwicklung von Impfstoffen, kleinsten Sensoren und einer umweltfreundlicheren chemischen Industrie führen – um nur einige Anwendungen zu nennen, die zum größten Nutzen der Menschheit sind“, hieß es vom Nobelkomitee.
Diesmal nur Männer
Alle sieben Preisträger der diesjährigen wissenschaftlichen Nobelpreise sind Männer. Die meisten forschten in den USA. Die Auszeichnung ist in diesem Jahr mit elf Millionen Kronen (rund 970 000 Euro) für jeden der drei Bereiche dotiert.
Die US-Amerikaner Victor Ambros und Gary Ruvkun werden für die Entdeckung der microRNA und ihrer Rolle bei der Genregulierung mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt. Den Physik-Nobelpreis erhalten zwei Wegbereiter Künstlicher Intelligenz: John Hopfield (USA) und Geoffrey Hinton (Kanada).
Am Donnerstag und Freitag folgen die Bekanntgaben der diesjährigen Nobelpreisträger für Literatur und für Frieden. Die Reihe endet am kommenden Montag mit dem von der schwedischen Reichsbank gestifteten sogenannten Wirtschafts-Nobelpreis.
Die feierliche Überreichung der Auszeichnungen findet traditionsgemäß am 10. Dezember statt, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel.