Konzert Kettcar in Aurich ... die Erinnerungssplitter liegen herum
Nach 22 Jahren spielten Kettcar wieder in Aurich. Ein Abend, der deutlich zeigte, was die Band aus macht und wofür die Fans die Hamburger lieben.
Aurich - Die ersten Akkorde erklingen, und Marcus Wiebuschs Stimme füllt den Raum: „Zeig mir einen, dem das egal ist, und ich zeig euch einen Lügner.“ 22 Jahre ist es her, dass Kettcar zuletzt in Aurich spielten – damals im Jugendzentrum, heute in der Stadthalle.
Der Abend beginnt. Mein Blick schweift den Saal. Dahinten steht der Typ, mit dem ich in der Schulzeit immer Ärger hatte. Dort die Schwester vom Kumpel, die ich seit mehr als 22 Jahren nicht mehr gesehen habe. Da das Paar, das ich gefühlt auf jedem Kettcar-Konzert zwischen Ostfriesland und Hannover oder Bremen sehe. Unbekannte Gesichter, vage bekannte und bekannte Gesichter, alle sind für dieses Konzert, für die Kettcar-Augenblicke hier.
Kettcar zwischen „Sommer ‘89“, „Balu“ und „München“
2001 gegründet, prägt die Band seitdem eine mal größere, mal kleiner Fangemeinde mit ihrer Musik, ihren Texten. „Befindlichkeitsfixiert“ hört man manchmal, „mit Haltung“ hört man dann wieder. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, denn die Texte von Marcus Wiebusch – und auch zunehmend von Reimer Bustorff – drehen sich um das, was viele bewegt. Das sind mal Beziehungen, mal der Rückblick auf das eigene Leben und eben auch mal die Politik. „Es macht uns zu Menschen, Menschen durch Zäune zu helfen“, sagt Sänger Marcus Wiebusch – und das Publikum weiß, dass jetzt „Sommer ‘89“ kommt: „Er war der Typ, der durch die Nacht schlich // Und schnitt Löcher in den Zaun // An einer ungarischen Grenze // Im ersten Morgengrauen“.
Der Abend geht weiter. „Benzin und Kartoffelchips“, „Rettung“, „Balu“, „Kanye in Bayreuth“, „Anders als gedacht“, „München“, „Einer“: Kettcar nehmen das Publikum mit durch die Bandgeschichte, die Erinnerungssplitter liegen herum. Wenn der Applaus verhallt ist, ist es still im Saal. Kaum Gerede, gebanntes Warten auf die nächste Anekdote der Band, auf das nächste Lied. Wer hier ist, so das Gefühl, will die Momente genießen, nichts verpassen. Wer hier ist, will „Balu“ mitsingen, will lieber im Taxi weinen als im HVV-Bus.
In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung
Es ist auch dieses Gefühl der Erwartung, was das Konzert in der Stadthalle besonders macht. Es geht um die Musik, um das, was alle hier verbindet. Ohne Show, ohne Blinke-Armbändchen, ohne Getue. „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist der Titel des aktuellen Albums von Kettcar. An diesem Abend möchte man sagen: Die gute Laune ist gerecht verteilt, sie ist hier, im Saal, während draußen der Nebel alles dämpft. Es gibt kein Draußen mehr für diese zwei Stunden.
Das ist, auch das gehört dazu, vielleicht nicht das, was man beim bloßen Lesen der Liedtexte erwartet. Wirklich leichte Kost, einfache Antworten, das gibt es bei Kettcar eher selten. Selbst die Liebeslieder kommen kaum ohne zumindest kleine Haken aus. Vielleicht gehört das mit zur Besonderheit der Band. Jedes Lied schlägt andere Saiten an, sowohl bei der Band als auch bei den Zuhörern. Der eine mag gerade der Typ vom Balkon gegenüber sein, die andere die, die kannte das auch mal. Gerade in der heutigen Zeit, in der die Welt immer komplizierter zu werden scheint, bieten Kettcar hier einen Anker. Das klingt jetzt sehr nach „letzter Halt: Klischeehölle Mitte“, wie es in „Trostbrücke Süd“ heißt. Aber es ist so, ganz subjektiv gesprochen. Wenn du das Radio ausmacht, wird die Scheißmusik auch nicht besser, aber die Einsicht zum Schluss, dass man weiter machen muss – die verankert Kettcar in ihren Texten – und in den Zuhörern.
Der Abend endet. Wir sind an den Landungsbrücken raus, stehen an den Deichen. In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung. Gut, dass Aurich noch einen Hafen hat. Im Foyer kommt die Band noch vorbei, Autogramme, Fotos, kurze Gespräche. Und wir wissen, was uns verbindet, „solang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zuende“.